Mein Sommer war argentinisch. Drei Interviews mit Bands aus Buenos Aires, die allesamt einen Premio Gardel gewonnen haben und sich jeweils durch ihre ganz eigenen Musikstil auszeichnen.
Eine von ihnen ist das elektronische Tangoprojekt BAJOFONDO TANGO CLUB. Mitbegründer Gustavo Santaolalla ist ein Urgestein des lateinamerikanischen Rock; Labelchef von Surco-Records (veröffentlichen u.a. MOLOTOV), Produzent von JORGE DREXLER, LA VELA PUERCA und CAFE TACUBA und Soundtrackschreiber von „21 Grams“ und „Die Reise des jungen Che“. Juan Campodonico spielte in Rockbands wie PEYOTE ASESINO. Luciano Supervielle hat gerade sein Debütalbum unter dem Label von BF TC heraus gebracht, spielte in diversen Hip Hop Bands in Frankreich und Uruguay und steht hinter den Samplern für JORGE DREXLER. Wie der BF TC das alles vereint, zeigt das Interview.
Ihr habt alle bereits in anderen Bands und vor allen Dingen auch andere Stile gespielt. Wie entstand die Idee, ein Projekt wie den Bajofondo Tango Club zu gründen?
G. Santaolalla: Es hat mich schon immer interessiert, nach Musik zu suchen oder Musik zu machen, mit der versucht wird, eine Identität wiederzugeben. Seit ich anfing Musik zu machen, seit meiner Jugend, habe ich versucht, die globalen Einflüsse des Moments mit den folkloristischen Musikstilen Argentiniens und Lateinamerikas zusammen zu bringen. Zum einen durch meine Band ARCO IRIS, in der ich gespielt habe, zum anderen durch die Gruppen, die ich produziert haben, von JUANES bis hin zur VELA PUERCA. Es ging mir immer um das Folkloristische. Und der Tango, der solch eine wichtige Sache ist, stand die ganzen Jahre über noch aus. Es war fast so, als ob er darauf warten würde, dass ich etwas mit ihm machte.
Vor ein paar Jahren fing ich dann an, mich mit der Idee näher zu beschäftigen. Ich kam dabei mit Juan [Campodrino] zusammen, den ich schon seit vielen Jahren kenne. Er spielte in einer Band, PEYOTE ASESINO, für die wir auf unserem Label [Surco Records, Anm. der Redaktion] ein Album produziert hatten. Als die Band sich auflöste, fing Juan an, mehr zu produzieren, unter anderem auch ein Album für den Urugayer JORGE DREXLER. Dieses Album hat mir außerordentlich gut gefallen und als ich nach einem Partner für mein neues Projekt suchte, dachte ich an Juan. Wir haben uns getroffen und uns fiel auf, dass wir beide schon eine Weile die gleiche Idee im Kopf hatten. Unsere Wege kreuzten sich quasi auf der Suche nach der gleichen Sache…
War die Idee, die dabei im Vordergrund stand, eher der Tango oder etwas Elektronisches?
GS: Beides. Uns haben beide Stile interessiert.
JC: Die Idee der Kombination von beidem war in diesem Moment einfach omnipräsent. Wir wollten durch neutrale Musik, wie die Elektronische, die eher global und technisch ist und viel mit Produktion zu tun hat, die Verbindung zur traditionellen Musik herstellen, die zu den Wurzeln zurückgeht, zu unseren Wurzeln. Wir hatten beide die gleiche Idee im Kopf. Er [Gustavo S.] war gerade dabei eine Filmmusik zu schreiben, die auf dieses Konzept aufbaute und auch bei PEYOTE ASESINO war der keim schon dafür gelegt, im Tango zu suchen. Der Tango ist für eine Musik, die immer da war, in Buenos Aires wie auch in Montevideo, in der Zone des Rio de la Plata. Du bist natürlich die ganze zeit vom Tango umgeben, weil alles sehr Tanguero ist.
GS: Im Radio, in den Bars, überall wird Tango gespielt.
Welche Form des Tango hat den größten Einfluß auf eure Musik? Es gibt ja den Tango Nuevo, den Tango von Piazolla, den der Orchester…
GS: Was wir am meisten mit unserer Musik wiedergeben wollen, ist den Geist des Tango. Der Geist, der im Tango lebt und der das Melancholische, das Dunkle, die Aggressivität widerspiegelt.
JS: Die Stile des Tango, sei es der der 20er Jahre, der von Piazolla oder des Nuevo Tango, sind sehr verschieden, und trotzdem haben alle etwas gemeinsam. Das ist genau das, was uns an all den Epochen interessiert. Sei es ein großes Orchester, das im Salon de Baile gespielt hat und die Leute am Tanzen waren, oder ein Sänger aus den 30er Jahren, die nur mit einer Gitarre da standen. Es geht um das, was der Tango ausdrückt, die Idee, wo wir herkommen. Was wir mit unserer Musik ausdrücken wollen ist, wer wir sind, wo wir herkommen und welche Musik heute dort existiert.
Wir spielen keinen Tango, sondern neuzeitliche Musik, die durch Musik, die stetig präsent und immer in unserem Umfeld war, inspiriert wurde. Das heißt natürlich auch, dass wir diese Wurzeln nicht ablehnen. Es ist schon lächerlich, dass ich in Uruguay Leute mit rede, die mir erzählen wollen, Musik zu machen wie…
GS: Nelso Mandela…
JC: …ja, verdammt, oder zu singen, als ob wir in den Straßen New Yorks wären, und Hip Hop wie die BEASTIE BOYS machen würden. So etwas macht doch keinen Sinn. Natürlich habe ich auch die BEASTY BOYS, JIMI HENDRIX und Techno gehört. Aber auch PIAZOLLA, GARDEL und die Musik unserer Heimat. Ich möchte etwas machen, das repräsentiert wo ich herkomme. Und das macht BF.
Ist es schwierig Tango zu machen, bei dem kaum Text verwendet wird? Immerhin haben die Texte gerade beim Tango eine sehr große Bedeutung.
GS: Sicher, es gab aber auch eine große Tradition von Musikern, die ohne Texte Tango gespielt haben. Es gab immer eine Periode der Sänger und dann wieder der Instrumentalstücke. Uns interessieren beide Teile, wir lehnen nichts ab. Hinzu kommt, dass das Konzept des Bajofondo Tango Club die konstante Suche und Experimentation. Wir legen uns auf nichts fest. Es kann gut sein, dass morgen ein BF Album erscheint, dass komplett eingesungen wurde. Genauso gut kann aber auch eins erscheinen, auf dem nicht ein Wort gesungen wird. Wir sind offen für alles…und versuchen uns verschieden auszudrücken.
Wenn du dir die zwei Alben anhörst [BF Tango Club u. Supervielle]; die Experiementation, die er [Luciano Supervielle] mit dem Rap und dem Tango gemacht hat. Oder Adriana Valleira, die eine Ikone des Tango ist, eine Tanguera, die plötzlich mit BF singt. In „Mi Corazon“ zum Beispiel sind zwei Teile enthalten, die sehr interessant sind: zum einen das Sampling und die Interaktion von Adrianan Valleira, die gegen das Sampling ansingt. Und die zweite Sache ist die Reduktion des poetischen auf kleine Sätze. Como „you fill the blanks“. Von „mi corazon“ bis „bajofondo, bajofondo“, mehr muss nicht gesagt werden, den Rest füllst du. Das wichtige ist, den Geist dieser Musik zu erfassen und wiederzugeben. Wir wollten nicht mit dem typischen - wir nehmen ein Schlagzeug, ein Bandoneon, und fertig - anfangen, sondern
eine Sprache finden, die wiedergibt, was diese Musik uns gibt. Auch das sexuelle und sinnliche, das der Tango beinhaltet. Die Suche geht also in die Richtung, aber es manifestiert sich auf verschiedene Art und Weise.
In wieweit hilft es euch, auf eurem eigenen Label Vibra zu erscheinen?
GS: Es ist ein Teil des Ganzen, im Sinne dessen, dass wir Künstler und zugleich Produzenten sind. Das hilft uns natürlich. Im besten Falle werden wir morgen aber mega-berühmt und unterschreiben bei Sony. Andererseits lässt es uns sehr viel Freiheit. Ich habe seit Jahren eine feste Verbindung zu meinem Partner Universal, was eine Zusammenarbeit ist, die sich über Jahre aufgebaut hat und durch Erfolge gekrönt wurde. Das ist uns jetzt natürlich eine große Hilfe. Die Resultate sieht man daran, was mit unseren zwei Alben passiert [BF Tango Club und Supervielle]. Gerade an den Orten, wo die Dinge anfangen - in diesem Fall Argentinien und Uruguay. Es ist unglaublich, das BF Album hat bereits Platin, verkauft sich weiter und ist immer noch in den Top 20 der Weltmusikcharts, obwohl das Album bereits drei Jahre alt ist. Die CD von Luciano [Supervielle] steht gerade vor diesem Punkt. All das ist Teil unserer Arbeit, unserer Musik und dem, was die Plattenfirma für uns macht. Das basiert natürlich auf der Arbeit meines Partners Universal und der Arbeit von Adrian, unserem Labelmanager. In dem Sinne ist uns das schon eine große Hilfe.
LS: Ich bringe zum Beispiel mein erstes Soloalbum heraus, obwohl mich im Grunde genommen niemand kennt. Dadurch, dass wir es aber unter der Marke von BF präsentieren und danach auch die Presse ausrichten, erlaubt es mir damit viel mehr Leute zu erreichen, als ich das allein könnte. Das ist schon eine sehr große Hilfe.
Ist BF eher eine Band oder ein Projekt?
GS: Wir sind dabei, die Begriffe Band oder Projekt neu zu definieren. BF ist eine Band mit multiplen Projekten. Wer hat denn gesagt eine Band müsste John, Paul und Ringo sein? Warum geht das nicht auch anders? Warum muss sich die Band trennen, damit alle ihre eigenen Sachen machen können? Warum können nicht alle in einer Gruppe zusammen arbeiten mit einer Ästhetik, die sich in eine kollektive Arbeit übersetzten lässt aber auch in individuelle. Die CD von Luciano ist innerhalb der BF Ästhetik, aber es ist trotzdem Luciano.
LS: Und das Album von Juan wird das Album von Juan sein. Als wir die Präsentation von Luciano gemacht haben, haben wir auch Stücke von BF gespielt, aber in einer Version von Luciano…
GS: …und mit BF spielen wir Stücke von Luciano aber in der Version von BF.
Wie werden die Songs geschrieben?
GS: Juan und ich treffen sich zum Schreiben und machen eine Menge zusammen. Dann gibt´s ein paar Sachen, die Juan allein schreibt, danach kommt Luciano mit seinen Sachen. Wir tragen also mehr und mehr zusammen, treffen uns und arbeiten zusammen an den Sachen oder suchen nach Kollaborationen. Es ist alles sehr dynamisch, nicht wie es normalerweise läuft. Wir proben zum Beispiel nicht.
Wie werden dann die Konzerte vorbereitet? Woher weiß jeder, wann was gespielt werden soll? Gerade wenn es verschiedene Versionen von euren Songs gibt.
GS: Kennst den Satz: Wanderer es gibt keinen Weg, der Weg entsteht während du gehst? Das Konzert entwickelt sich, während wir spielen. Für unser erstes Konzert in Buenos Aires, welches wir in einer Passage auf der Straße gespielt haben, haben wir einmal geprobt. Und es lief - na sagen wir - recht gut. In dem Moment hatten wir aber noch nicht einmal die Band. Das Mädchen, das heute ein Lied singt, war vorher außerhalb der Bühne und hat das Licht gemacht. Als wir dann für ein Konzert nach Uruguay gefahren sind, kam zu mir und meinte, schau mal, ich hab hier ein paar Projektionen, was hältst du davon? Und ich meinte, gut, her damit. Zu der Zeit hat sie also die Videoprojektionen und das Licht gemacht. Dann meinte sie eines Tages, sie hätte sich ein Mischpult gekauft, und ich entschied, dass es besser wäre, sie gleich mit auf die Bühne zu holen. So entstand die Band. Die Musiker haben aber auch alle große Fähigkeiten. Von daher gehen manche Sachen sehr schnell von der Hand. Wir haben aber kein Proberaum oder ähnliches.
Bevor wir das Album produziert hatten, haben wir dreimal geprobt. Und danach direkt die CD aufgenommen.
Das waren dann Proben von zehn Stunden jeweils?
JC: Na klar, den ganzen Tag.
LS: Wir spielen aber auch viel. Mit dem BF jetzt hier, dann als wir meine CD präsentiert haben und außerdem spielen wir auch viele DJ-Sets. Von daher sind wir die ganze Zeit mit der Musik in Kontakt. Dadurch verändern und improvisieren wir die Songs natürlich auch wieder etwas, damit wir jedes Mal frisch klingen. Was ich heute zum Beispiel in einem Lied spiele ist etwas komplett anderes, als das was ich letztes Jahr gemacht habe.
GS: Ich seh das mehr wie eine Fußball-Team. Ein Fußball-Team probt nicht, weil es nicht proben kann. Es muss allerdings trainiert sein. Also versuchen wir trainiert zu sein. Jeder trainiert sich also, spielt seine Stücke und ist in seinem eigenen Training. Danach kommen wir zusammen und spielen. Jedes Spiel ist ja ein anderes. Ein Spiel kannst du nicht einstudieren.
Was ist der Bajofondismo?
JC: Das ist der Stil, den der Bajofondo TC hervor gebracht hat.
Habt ihr euch den Begriff ausgedacht oder haben alle Leute, die eure Musik gehört haben, plötzlich angefangen sie als Bajofondismo zu bezeichnen?
LS: Eigentlich kommt der Begriff von einem Journalisten, der die Pressetexte für BF schreibt.
GS: Der Begriff hilft die Musik zu beschreiben. Die Musik von Luciano ist z.B. voll von Bajofondismo, aber es bleibt trotzdem seine Musik. Wie eine gewisse Marke.
Welche Bedeutung hat die Fusion von Tango und elektronischer Musik für Lateinamerika?
GS: Das ist sehr komplex. Vor allen Dingen versuchen wir uns mit unserer Musik von der Definition des elektronischen Tango zu lösen. Wir machen Musik nicht, weil wir Tango, sondern zeitgenössische Musik machen wollen, die unsere Vision von der Musik die gerade in Buenos Aires und Montevideo aktuell ist. Natürlich ist der Tango und die Milonga zugegen, wenn du diese Orte repräsentieren willst. Aber wir wollen ja uns vorstellen, und wir sind nicht nur Tango und Milonga. Wir sind auch Rock, Hip Hop, Elektronische Musik. Was wir machen ist den Leuten Hilfe anzubieten, die mehr über unsere Kultur wissen wollen. Natürlich sind der Tango und die Milonga Musik aus B.A. und Monetvideo, und wir versuche Musik aus B.A. und Montevideo zu machen. Aber wir machen keinen Tango
JC: …und auch keine Milonga, sondern Bajofondismo.
GS: Wenn uns jemand zu elektronischem Tango packt ist das ok, es ist aber auch in Ordnung, wenn wir unter Worldmusik eingeordnet werden.
JC: Andererseits ist das auch immer ein gewisser Druck, wenn die Leute dich zu etwas einordnen.
Andererseits ist die Verbindung von elektronischer Musik und traditioneller, folkloristischer Musik etwas sehr globales und gleichzeitig eine Brücke zwischen Europa und Amerika.
GS: Ja, natürlich! Aber denk mal UNDERWORLD. Die waren auch nicht nur eine weitere elektronische band, sonders etwas besonderes. Ich glaube mit uns ist das genauso. Wenn mal mit einbeziehst, was wir an musikalischen und soziokulturellen Einflüssen mit einbringen, dann wären Tango und Elektro viel zu wenig, um uns zu beschreiben. Wenn du uns live siehst merkst du, dass viel, viel mehr dahinter ist. Das erste Album zeichnet sich eventuell noch mehr durch diese Charakteristik aus, weil es mehr wie in einem Labor zuging, die Musiker kamen und ein Stück gespielt haben, und mehr nicht. Heute ist das anders. Die Cd von Luciano hat z.B. ihre ganz eigenen Charakteristika, und sie ist auch mehr eingespielt. Wir machen gerade etwas, von dem wir nicht genau wissen, was es ist, noch wissen wir, wie wir es definieren sollen. Letztlich bleibt es aber Musik mit der wir zeigen wollen wer wir sind und wo wir herkommen; Buenos Aires und Montevideo.
Im Moment wird viel elektronische Musik mit traditionellen Stilen gemischt, was wie der Beginn einer neuen Ära ist…
JC: Ja, genau. Außerdem verbinde ich Elektro auch immer mit Rock. Wenn eine E-Gitarre mit im Spiel ist, ist auch Rock mit dabei. Und Rockmusik findest du wiederum in allen möglichen anderen Stilen wieder. Die Rockmusik geht bis nach Indien, und dann wiederum siehst du jemanden auf einer Fender etwas komplett anderes spielen.
GS: Bis hin zum Solo von Britney Spears. Woher kommt denn die Gitarre? Aus der Rockmusik logischerweise! Im Pop gab es diesen Sound gar nicht.
JC: All diese Konzepte die aus der Rockmusik kommen, integrieren sich alle Musikstile. Da kannst du egal wohin auf der Welt fahren, und du wirst genau die gleichen Konzepte wieder finden. Da gleiche passiert jetzt mit der elektronische Musik. Das ist ein neues Stadium der Entwicklung, das von neuen Instrumenten und neuen Technologien abhängt. Aber es kommt natürlich der Moment, wo es sich etabliert. Jeder kann heutzutage einen Verzerrer verwenden, egal ob im Pop oder im Rock. Und genauso kann heutzutage jeder die Technik der Elektronik verwenden, egal in welchem Musikstil, weil das der Weg der Evolution ist. Ich finde interessant, dass die elektronische Musik neutraler ist. Sprich, ein Ableger der absolut globalisiert ist.
…aber gleichzeitig auch kalt…
GS: Ja, aber die Leute denken auch oft Elektro seien die Töne vom Telefon, piep, piep, piep, und bump, bump. Aber Elektro ist alles. Auch wen du einen Indio mitten im Urwald aufnimmst, in dem Moment wo du anfängst etwas zu manipulieren, etwas schneidest und veränderst, machst du schon elektronische Musik.
JC: Gestern habe ich eine Band gehört, die Cumbia Villalera macht, aus den herunter gekommmensten Vierteln Buenos Aires´. Das ärmste was du dir vorstellen kannst.
Da wo auch der Tango herkommt?
GS: Nein, also doch schon, aber der Tango kommt eigentlich aus Orten nahe des Hafen, dem Bajofondo, kleinen Bars, Nachtlokalen etc. La Villa ist ein Phänomen, was erst viel später auftrat. Das ist quasi der Zusammenbruch der industrialisierten Gesellschaft. Es ist, als ob es der Bajofondo wäre, aber schon sehr bajo, bajo bajo…Wie die Favelas in Brasilien. In Argentienien nennt sich das villa miseria. Häuser die Pappe gemacht sind, leute die auf einem Müllhaufen wohnen…
JC: Ich hab also diese CD gehört und die Musik, die sie machen, bestand aus einem Mischpult casiatonic - so piep, bup, dup - einem Programm für den Computer mit Autotune – der Typ pfeift also und verzerrt mit dem Autotune alles – und das war zu 100% elektronische Musik. Und die wissen gar nicht, wie man elektronische Musik macht. Die machen Musik, mit dem was sie da haben. Mit einer Orgel und Software die sie sich schwarz aus dem Internet gezogen haben. Und das hat nichts mit der Vermischung von europäischer und traditioneller Musik zu tun, sondern mit dem spontanen Einfall der Musiker.
Aber die Tendenz der neuen Bands geht schon in die Richtung, und es gibt mehr Bands die diese Musik machen, als pure traditionelle Musik?
GS: Nein, ich denke nicht. Traditionelle Bands gibt es auch noch. Guck dir FRANZ FERDINAND zum Beispiel an. Ich denke bloß, dass es anfangs immer hardcore, hardcore, hardcore diese eine Musikrichtung ist, sich früher oder später aber doch alles vermischt. Irgendwann fragst du dich nicht mehr, ob das jetzt Rock oder Jazz oder Funk ist. Es ist Musik, ein Teil der Kultur.
JC: Ich denke, was die elektronische Musik ausmacht sind die Wiederholungen, die Loops, die Musik für den Körper sind. Wenn man es genau nimmt, gibt es große Teile, in denen die melodische Erzählung keinen Sinn ergibt, aber man trotzdem keine Lied, keinen Text braucht…
LS: Wenn neue Technologien entstehen, passiert das< gleiche wir mit der E-Gitarre. Ich frage nicht mehr, ob das jetzt elektronische Musik ist oder nicht, bloß weil ich einen Sampler benutzte. Die neue Technologie wirft einfach eine neue Debatte auf. Das neueste sind heutzutage halt der Computer und Sampler, und das ist das, wovon die Leute dann auch reden…
GS: Das interessanteste ist allerdings, von der Musik an sich zu reden. Nicht was für ein Stil ist das und was für Musik machst du. Die beste Musik für mich ist die, die du nicht definieren kannst.
Wie sieht die Szene in Argentinien und Uruguay aus?
GS: Die ist sehr vital. Da geht viel. Es gibt eine große Tradition des Rock und Argentinien. Es gibt Bands die Punk oder Ska machen, andere die traditionellen Rock machen, wieder andere die sehr argentinischen Rock machen, wie LA BERSUIT. Die Musikszene in Argentinien ist sehr stark, das war schon immer so und das wird auch immer so sein.
Was für ein Publikum kommt zu den Konzerten von BF TC?
JC: Die Leute sind super eklektisch. Die Band selbst besteht ja aus Leuten verschiedenen Alters und unser Publikum von daher auch. Es gibt Leute, die weitaus jünger sind als wir und dann wieder welche, die älter sind. Das Projekt ist so eklektisch, dass die Leute sich aus verschiedenen Gründen dafür interessieren. Manche interessieren sich wegen dem elektronischen Teil dafür, der mehr mit Dance zu tun. Andere weil sie sehen, ah, da ist ja Tango mit drin, um quasi den traditionellen Teil aufzuarbeiten, der sie mit ihrer Vergangenheit verbindet. Es gibt auch sehr junge Leute, die zu uns kamen und meinten, sie hätten angefangen sich für Tango zu interessieren, weil sie uns gehört haben. Wir machen zwar keinen Standard-Tango, geben aber Referenzen. Deswegen sind die Konzerte auch sehr unterschiedlich. Manchmal spielen wir auf einem Platz, wo kleine Kinder und Señoras zuschauen, dann wieder spielen wir um drei Uhr nachts in einem Club …
Habt ihr in den Clubs als DJ-Sets gespielt?
GS: Nein, als Band. In Theatern auch, wo die Leute alle sitzen. Aber die Musik gibt dir die Möglichkeit, die Konzerte auf verschiedene Art und Weise zu erleben. Wenn du dich hinsetzen und nur auf den instrumentellen Teil konzentrieren möchtest, d.h. auf das audiotive, geht das genauso, wie wenn du die Musik körperlich, tanzend, erleben willst. Wie dem auch sei, egal ob wir in einem Theater spielen oder woanders, zum Schluss geht das Konzert immer körperlich aus. Es gibt immer etwas, dass die Verbindung herstellt. Unsere Musik hat etwas universelles, von der Musik her, vom Sound und dem Spirit von der Musik des Rio de la Plata…
JC: Claro, für die Europäer erscheint die Musik vielleicht auch nicht so andersartig und neu, weil der Tango und unsere Musik sehr viele europäische Wurzeln in sich tragen. Nach B.A. sowie Montevideo sind viele Italiener und Spanier immigriert. Mein Name ist Campodonico, was Italienisch ist, Santaolalla ist Spanisch, wir vereinen also eine Menge europäische Einflüsse in uns.
GS: Und dann gibt es die deutschen Einflüsse, durch die Bandoneons die gespielt werden.
JC: Unsere Kultur besteht genau daraus, gemischt mit dem Schwarzen, dem Lateinamerikanischen, dem Brasilianischen. Das ist eine speziellen Mischung verschiedener Stile.
Wo seht ihr den Unterschied von eurer Musik zu den anderen Bands des Elektrotango wie z.B GOTAN PROJEKT, TANGHETTO oder NARCOTANGO?
GS: Ich denke das sind alles sehr eigene Manifestationen. Klar, jemand der kein Argentinier ist sagt dir vielleicht, das klingt alles gleich. Ich denke aber, dass die Ausdrucksweise jeder der Bands sehr eigen ist. GOTAN zum Beispiel repräsentiert das, was es ist, und zwar: Ein Argentinier, ein Franzose und ein Schweizer. Und das hört man in der Musik. Hör dir z.B. eine Tango-Orchester der 30er Jahre aus Argentinien und eins aus Deutschland an, und wirst sehen, dass das zwei absolut verschiedene Dinge sind. GOTAN ist eine europäischere Vision des Tango. Unsere Vision hingegen ist más sudaka, lateinamerikanischer, vom Rio de la Plata. Wir haben aber z.B. beide an unsere Alben gearbeitet, ohne dass eine vom anderen wusste. Als wir noch zwei Monate an unserem Album zu arbeiten hatte, kam das Album von GOTAN heraus und wir konnten es nicht glauben. Obwohl es anders war, war es doch ähnlich. Es lag also schon vorher in der Luft. Wie alle künstlerischen Bewegungen. Aber die Ergebnisse waren trotzdem sehr verschieden.
Obwohl beide Bands verschieden sind, kann man trotzdem nicht genau sagen, was sie voneinander unterscheidet.
GS: Du merkst, dass es verschieden ist, kannst aber nicht genau sagen, warum. Ich denke das liegt daran, dass die Dinge sich auf unterschiedliche Art und Weise verbinden. Aber am interessantesten ist, wie wir die Verbindung zu unserem Publikum herstellen. Und in dem Sinne haben wir, im Vergleich, die meisten Leute erreicht. Ich rede da gern drüber, weil wir sehr stolz darauf sind. Wir haben immerhin Platinstatus und die goldene Schallplatte in Argentinien bekommen.
LS: Anfangs waren wir total Underground, Bajofondo. Es gab auch keine externe Werbung, wir sind von allein größer geworden.
Die Bajofondisten hätten noch Stunden weiter erzählt, wir mussten das Interview allerdings leider an dieser Stelle abbrechen. Von daher herzlichen Dank und bis zum nächsten Mal. Einige weiter Alben folgen mit Sicherheit.
Autor: Anne