Bestens. Absolut. Ich liebe diesen Dreck!
Ein echter Gigant (ehemals Tellerwäscher, so will es die Legende) diese Aggrolites, die sich da rasant vor uns allen aufgetürmt haben. Die fünf Musiker mit ihrer langjährigen Erfahrung mit jamaikanischer Musik, die sich bekanntlich als Backing Band für die ganz großen Nummern wie Derrick Morgan und Prince Buster zusammengefunden hatten, haben mit ihrem Debüt „Dirty Reggae“ eine Welle sonders gleichen losgeschlagen. Eine Welle, die endlich einmal wieder mächtig genug war, Begeisterungsstürme loszutreten, welche weit mehr als das übliche Häuflein eingeweihter Fanatiker bewegen konnten.
Die Aggrolites setzten Maßstäbe. Und sie wurden gefeiert. Und das, obwohl sie sich nicht der gängigen Szene-Klischees bedienten. Sie schwenkten weder die Rastafari-, weder Rude Boy- noch die Skinheadflagge und doch wurden sie von allen akzeptiert. Weil es eben der völlig neue Groove und nicht zuletzt die unglaubliche Live-Energie der Band war, die alle begeisterte. Ganz nebenbei wurde mit „Dirty Reggae“ übrigens auch gleich die passende Schublade dafür geschaffen. Und nein, ich stimme nicht mit vielen meiner Kollegen überein, die die Aggrolites kopfnickend und mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht so einfach unter "Reinkarnation des Skinheadreggae" abheften. Schön wär’s, aber so berechenbar ist die explosive Mischung nicht gemixt, die sich hinter dem kalifornischen Phänomen verbirgt. Klar, ordentlich Bass, eine hundsgemeine Orgel und ein dicker Reggaebeat sind ganz vorne mit dabei, aber die Aggrolites sind genauso wenig eine Neuauflage der Upsetters, wie z.B. die Slackers sich nach den Skatalites anhören. (So sehr sich Vic und Dave vielleicht auch darüber freuen würden.) Wie auch? Da liegen einfach gut und gerne 30 Jahre Musikgeschichte dazwischen. Schon allein deshalb ist klar, dass sich auch bei einer Band wie den Aggrolites, die sich ausdrücklich auf die jamaikanischen Wurzeln berufen, zwangsläufig eine ganze Reihe von Einflüssen in den kreativen Gehirnwindungen festgenagelt haben muss. Einflüsse, die darüber hinaus wie das Eichenfass zum Wiskey gehören und den exquisiten Genuss überhaupt erst ermöglichen.
Nagel Eins: Jesse Wagners Stimme zum Beispiel. Eine echt mächtige Röhre, quasi der Marshall unter den Reibeisenstimmen und dabei noch so viel Soul in der Kehle… Das ist weit mehr Punkrock als es sich Mister Perry hätte träumen lassen und trotzdem keine Pogoparty.
Nagel Nummer Zwei: Zu viel Soul, zu viel Funk, außerdem diverse Nuancen exotischer Einflüsse und sogar Restbestände aus der Hip-Hop Szene. Ja, das tut jetzt den Hardlinern richtig weh, aber so ist es. Auf der neuen Scheibe ist der Einfluss zwar dezenter geworden aber immer noch vorhanden. Wer gar nicht weiß was ich meine sollte sich mal „Pop the Trunk“ genauer unter die Lupe schieben. Dazu harmoniert übrigens Jesses quietschgelbe Trainingsjacke im Video exzellent. Ja, man könnte regelrecht sagen, die Aggrolites schließen damit den Kreis wieder! Es wächst vielleicht wieder zusammen, was einmal zusammen gehörte! Das wahre Back to the roots! Hip-Hop’s coming home! Ok ich schweife ab. Zurück zu der großartigen zweiten Platte mit ihren sage und schreibe 19 Tracks, die uns solche Hits wie “Someday”, “Fury Now” und „Countryman Fiddle“ bescherte. Bei "Love isn´t Love" wurde zwar von Rudy Mills´ "John Johnes" geklaut, das wiederum aber so geschickt, das geht schon klar: Auch ein toller Song. Ich finde übrigens, dass im Zuge von Nagel Nummer Zwei einer der wenigen aber schmerzhaften Kritikpunkte des Albums auf den Kopf getroffen wurde. Denn obwohl sich wirklich großartige Songs darauf befinden, wirken diese seltsamer Weise vom Plattenteller längst nicht so fett wie auf dem Livekonzert. Woran liegt das? Mich stört zum Beispiel ausgerechnet bei einem so herrlichen Stück wie „Countryman Fiddle“ der seltsame Klang der Orgel. Das Gebimmel klingt schon fast wie eine Steeldrum und, Absicht oder nicht, es verleidet mir fast diesen Song, der Live eine Offenbarung war. Schade. Der klassische Hammondsound hätte mir an der Stelle weitaus besser gefallen und auf die Exotik hätte ich hier locker gepfiffen.
Tja, ich könnte jetzt noch weiter nach Nägeln suchen, aber wir sind ja kein Eisenwarenhandel, deshalb schließe ich meine Beweisführung mit der zugegeben schlichten Behauptung, dass man erheblich zu kurz greift, wenn man die Aggrolites mit Skinheadreggae zu kategorisieren versucht; Was übrigens auch den enormen Erfolg weit über die Szene Grenzen hinaus erklären dürfte. DIRTY Reggae passt viel besser und umfasst sowohl den dreckigen Sound, die Punkrock Attitüde und all die vielen kleinen Verunreinigungen die den individuellen Sound erst so reizvoll machen. Und so kann ich endlich einmal wieder mit voller Inbrunst sagen: Ich liebe diesen Dreck!