Leningrad

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im Hebbel Theater am 31.10.2003
Leningrad, die zweite Pleite?

Vielleicht kann sich ja noch jemand erinnern, ja damals vor noch nicht allzu langer Zeit, am 9. Mai diesen Jahres standen Leningrad schon einmal im Programm der gepflegten Berliner Unterhaltungswelt. Das Konzert wurde damals ohne Begründung abgesagt. Nicht unbedingt zu unserem Schaden, denn die Mad Caddies spielten zufällig am gleichen Tag. Wir hatten darüber berichtet.

Nun ist ein anderer Tag, ein anderer Ort aber die gleiche Band. Sollte dieses Stück gemäß den strengen Regeln des aristotelischen Theaters auch mit gleicher Handlung spielen? Es sieht fast so aus, denn wieder werden uns jede menge Steine in den Weg gelegt, bei dem Versuch, die wahnwitzigen St. Petersburger Ska-Polka-Punker endlich doch noch live zu erleben. Eingeladen zu einem offenbar kunstvoll geplanten Abend hat das Hebbel Theater am Halleschen Ufer. „Was?“ wird jetzt ein geistiger Aufschrei durch das Internet hallen, „Theater?“, „Wo soll das sein?“ usw. Ja der szeneerfahrene Musikfan wird die Gegend wahrscheinlich nur des Tommyhauses wegen kennen. Wer hätte schon gedacht, dass sich quer gegenüber, in direkter Linie hinter der Berliner SPD Zentrale verborgen, ein Theater versteckt, dass obendrein noch dabei ist, Musikgeschmack zu beweisen.

Leider macht bereits früh das Gerücht die Runde, das Konzert sei ausverkauft, was uns natürlich mitnichten davon abhält, unsere nun wieder so greifbar gewordene Chance am Schopfe zu fassen und trotzdem dort aufzukreuzen. Was müssen meine Augen leiden... Ein roter Teppich vor dem Eingang verursacht bereits die ersten Magenkrämpfe, dann die Bestätigung der Hiobsbotschaft vom Ausverkauf an der Abendkasse und als dann plötzlich die Türen aufschwingen und einen Cocktailkleidchen und Krawattennadel bewehrten Mob auskotzen, ist mir fast zu selbigem zumute. Wegen denen? DIE kaufen mir meine Karten unter dem faulen Hintern weg? Na das kann ja schön werden. Klar eigentlich, wer sonst besorgt sich Tickets für ein Punkkonzert im Vorverkauft, ohne dass die Band Namen wie „Die Ärzte“ oder „Die Toten Hosen“ (nur der Gerechtigkeit halber erwähnt) trägt. Die Intellektuellen und Kulturfuzzis also! Dazwischengestreut einige recht betrunkene russische Jugendliche, die sich alle Mühe geben, mithilfe selbst mitgebrachter Spirituosen noch betrunkener zu werden. Natürlich ist auch niemand zu finden, der noch Karten übrig hat, um diese im last minute Angebot noch anzubieten. Letztendlich ist man aber doch nicht ganz doof und schmuggelt sich irgendwie durch die Türkontrollen, (wer das genauer wissen will, kann ja mal per mail anfragen, ich mach dann gern ne Zeichnung) um in den edel wirkenden Theatersaal vorzudringen. Gerade noch kämpft man gegen den Drang an, sich einen Sitzplatz zu suchen und mit gedämpfter Stimme um eine Zigarette zu beten, da bemerkt man, dass erstens gar keine Sitzplätze da sind (immerhin) und außerdem Rauchverbot (Häh? Ach ja :Theater) herrscht. Und wo man schon gleich dabei ist: Es gibt außerdem nur draußen Toiletten, jenseits der Kartenkontrollen. Das ist aber gar nicht so schlimm, denn zu Trinken gibt’s auch nur draußen, das gleicht sich ja dann wieder aus. Nachdem es in diesem sog. kulturellen Etablissement aber wahrscheinlich sowieso nur Prosecco gibt, schließt sich der Kreis und wir bleiben einfach wo wir sind: bleiben nüchtern, rauchen nicht, stören das Showbiz nicht durch penetrantes aufs-Klo-rennen und sind auch sonst ein gepflegtes und vor allem gesundes Mitglied der Gesellschaft.

Bald schon geht das Konzert los und unsere russischen Freunde vom Einlass sind von den ersten Tönen an sofort auf Starkstrom gestellt. Irgendwie ein seltsames Bild. Leningrad, deren Mitglieder sich teilweise aus der Skapunkband Spitfire, ebenfalls aus St. Petersburg, rekrutieren, bringen insgesamt mindestens 13 Musiker auf der Bühne, inklusive der für die Balkanrocker charakteristischen Tuba und Pauke.Davor stehen ein paar wehrte Herren in schwarzen secret service Anzügen, die sämtliches Haar, dessen sie noch habhaft werden konnten, mit Literweise Gel getränkt tragen. Dann eine bunt durcheinandergewürfelte Gruppe Zuschauer: Eine Horde wild gestikulierender Jugendlicher, zum größten Teil der russischen Sprache mächtig, ein immerhin noch ansehnlicher Teil müßig mit der Hüfte wippender Erwachsener, denen die Hornbrillen unter der kritikverrunzelten Stirn festgefroren zu sein scheinen, und ein paar unverbesserliche Veteran-Intellektuelle, die völlig unpassend, krampfhaft versuchen, ihren von ansatzweise pogenden Jugendlichen bedrohten, angestammten Stehplatz in der dritten bis fünfen Reihe zu behaupten. Diese Zeitgenossen (oder sagt man da schon fast Lebensabschnittsgenossen) stammen offensichtlich von der Sorte Homo Sapiens ab, die sich gewöhnlich wochenlang damit brüsten, mal wieder eine neue Dauerkarte in dieser oder jener renommierten Lokalität ergattert zu haben und die auch ernsthaft Willens zu sein scheinen, genau DEN Stehplatz mit allen Mitteln zu verteidigen, über dem sich bei „regulären Veranstaltungen“ ihr extra reservierter Sitzplatz befindet. Einer dieser Sitzplätze mit eingebauter Rückenheizung, gegen das Rheuma... Jedenfalls hat es besagter Opa nicht leicht, angesichts des immer dichter werdenden Gedrängels, weiterhin einen souveränen Eindruck auf seine um Jahre jüngere Begleitung zu machen. Spätesten nach drei Liedern ist der sauber entfusselte Rollkragenpulli verrutscht, das Lächeln wirkt nur noch gequält und Sprüche die eigentlich Insiderwissen suggerieren sollen, verfehlen ganz offensichtlich ihre Wirkung: „Es gibt durchaus Rockmusik, die mir gefällt. Aber meine Musikerfahrung bezieht sich ja mehr auf Klassik und Jazz...“ Was macht er dann hier, frage ich mich. Allein wie dieser Altjuppie das Wort „Rockmusik“ betont, klingt es nach zwei Wochen alten „Dritten“ ohne Kukidentbehandlung. Ein Wunder dass er Jazz als „Tschäß“ ausspricht und nicht wie geschrieben „Jazz“ wenn ihr wisst was ich meine. Trotzdem bewahrt seine Altmodischkeit Haltung und bleibt bis fast zum Schluß unbequem aber trotzig vorne stehen.
Der jüngere Rest des Saals hat in der Zwischenzeit so viel Spaß wie möglich. Dirigiert durch das hölzerne Samurai Schwert von Sänger Sergey Shnurov ("Shnur") wird gehüpft, gepogt, gefeiert, bis ... Ja bis die Band nach 30 Minuten plötzlich die Bühne verlässt. Irritierte Ruhe macht sich breit. Mal wieder so ein Theater gag? Pause während des Konzerts? Dann betritt ein Anzug die Bühne. Die buschig nach Hinten geföhnte André Rieu Frisur soll wohl künstlerisch wirken. Er geht ans Mikro.

Wahrscheinlich kennen einige von Euch das Dilemma bei vielen Konzerten vor dem angeblich so wählerischen Berliner Publikum: Ein riesen Konzertsaal, eine tolle Band und trotzdem stehen die „Zuschauer“ irgendwo hinten im Halbdunkel oder gleich an der Bar und beschäftigen sich eindringlich mit diversen Bierflaschen anstatt zu tanzen. Meist versucht eine Band diese Tanzfaulheit dann mit den immer gleichen Sprüchen wie „Kommt doch mal näher, wir beißen nicht“ zu übertölpeln.

Tja, im Hebbel Theater nicht! Im Gegenteil: „Ich bitten einen Moment um Ruhe“ schallt es aus dem Pinguin heraus „Wenn Sie tanzen wollen, gehen Sie bitte 4 Meter von der Bühne zurück!“ Das hat die Welt noch nicht gesehen. „Wenn sie Tanzen wollen, gehen Sie zurück oder wir müssen Absperrgitter verwenden.“ Müssen sie dann selbstverständlich auch! Wieder was zu tun für die Security. Wo die wohl so schnell die Absperrgitter her haben? Nur zur Erklärung: Die Veranstalter hatten während des ersten Teils des Konzerts offenbar bemerkt, (schlau!) dass die vordersten Reihen auf dem mit einer Platte abgedeckten Orchestergraben (ja, so was gibt es halt in einem Theater) standen und hüpften, der logischerweise zu vibrieren begann. Nun hat wohl irgendein findiger Mitarbeiter die Theatereigene Versicherungspolice durchgelesen, um zu sehen, wer haftet, wenn die Platte einbricht und die Konzertbesucher abstürzen. Daraufhin hat wohl jemand richtig Kopfschmerzen bekommen und befohlen, diese leichtsinnigen Jugendlichen da runter zu holen. Tolle Idee. So langsam frage ich mich, wie die Veranstalter sich wohl ursprünglich dieses Konzert vorgestellt hatten: Proseccoglas tragende Diskussionsrunden im Zuschauerraum??? Jedenfalls hätte sich das Theaterteam ruhig vorher mal eine Platte machen können oder die schon vorhandene Platte über dem Orchestergraben einfach verstärken können. Immerhin begreift sich das Hebbel Theater nach der Wiedereröffnung in drei Häusern ja großkotzig als „Kreativ-Pool“ in dem alle möglichen Künstlergruppen voneinander lernen sollen und gemeinsam aktiv werden sollen. So steht es auf der neuen Internetseite. (www.hebbel-am-ufer.de) Matthias „Lilienthal, [künstlerische Leitung des Hebbel Theaters] der zuletzt das internationale Festival ´Theater der Welt´ 2002 in Köln, Bonn, Duisburg und Düsseldorf leitete, hat mit seinem damaligen Credo, dass er ´eine hysterische Sehnsucht nach Realität´ habe, den Horizont seiner Arbeit umrissen.“ Na dann herzlich willkommen!!
Nach der Pause geht das Konzert dann mit professionellem Security-Bereich vor der Bühne weiter und es wird trotzdem noch ein richtig lustiger Abend. Irgendwann trete ich Wladimir Kaminer auf den Fuß, der sich unbemerkt neben mich gestellt hatte. Er hat sich übrigens nicht entschuldigt. Die Zweite Pause kann dann nach einer weiteren halben Stunde auch niemandem mehr die Laune verderben. Auch nicht, die nach ewigen Applaustiraden nach dem dritten Teil doch verweigerte Zugabe. Als dann am Ende eine Leinwand heruntergelassen wird und ein mit lustiger Musik unterlegter unlustiger Film gezeigt wird, löst sich die Versammlung langsam auf und weicht wieder den mit künstlerischem Anspruch gesegneten Jan-Uwes, Maltes und Kunigundes. Für uns wird es auch langsam höchste Zeit: Wer hält das schon aus, einen dreiteiligen Konzertmaraton ohne einen einzigen Schluck zu trinken, aber glücklicherweise ist die Linie 1 ja nicht weit weg, und da gibts Bier, endlich.